Monthly Dose Arbeitsrecht 10/2025

Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis

Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der zehnten Ausgabe 2025 die Entscheidungen des

Fehlerhafte/unterbliebene Massenentlassungsanzeigen 

EuGH Urt. v. 30.10.2025, C-134/24 und C-402/24.

Der EuGH hat in seinen Urteilen vom 30.10.2025 („Tomann“, C-134/24, und „Sewel“, C-402/24) die unionsrechtlichen Anforderungen an das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen konkretisiert und dabei klargestellt, dass Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung nur dann wirksam werden können, wenn zuvor eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, MERL) erstattet wurde und anschließend die in Art. 4 Abs. 1 MERL vorgesehene 30-Tage-Frist abgelaufen ist. Die Reihenfolge Konsultation – Anzeige – Kündigung ist zwingend einzuhalten. Eine nachträgliche Anzeige oder Nachholung fehlender Angaben ist nach Auffassung des EuGH unionsrechtlich ausgeschlossen, da sie den Schutzzweck der Richtlinie unterlaufen würde.

Der EuGH stellt ebenso klar, dass die Richtlinie keine bestimmte Sanktion – etwa die Nichtigkeit der Kündigung – vorgibt. Die Ausgestaltung der Sanktionen bleibt dem nationalen Recht überlassen, solange diese wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind und den unionsrechtlichen Schutzzweck gewährleisten. Die bisherige Rechtsprechung des BAG zur Nichtigkeit ist damit nicht unionsrechtlich geboten, aber unionsrechtlich zulässig.

Sachverhalt

Fall Tomann (C-134/24) – unterbliebene Anzeige

  • Im Oktober 2020 kündigte ein Insolvenzverwalter innerhalb von 30 Tagen die Arbeitsverhältnisse von mehr als fünf Arbeitnehmern der Insolvenzschuldnerin, ohne eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu erstatten. Er ging irrtümlich davon aus, dass der Schwellenwert von 20 regelmäßig Beschäftigten nicht erreicht worden sei.
  • Das Arbeitsgericht Hamburg und das Landesarbeitsgericht Hamburg gaben der Kündigungsschutzklage eines Arbeitnehmers statt.
  • Der 6. Senat des BAG stellte mit Beschluss vom 11.05.2023 fest, dass zum Kündigungszeitpunkt die Schwellenwerte überschritten waren und eine Anzeige erforderlich gewesen wäre. Er kündigte mit Beschluss vom 14.12.2023 (6 AZR 157/22) an, von der bisherigen Linie des 2. Senats des BAG (u.a. in dessem Urteil v. 22.11.2012 (2 AZR 371/11) abweichen zu wollen. Er vertrat die Auffassung, dass das Fehlen einer Anzeige nicht zwingend zur Nichtigkeit der Kündigung führe, da die Festlegung einer derart strengen Sanktion dem Gesetzgeber vorbehalten sei.
  • Wegen Divergenzen zur bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats erfolgte eine Divergenzanfrage; anschließend legten beide Senate dem EuGH Fragen zur Auslegung der MERL vor (unter anderem zu den Folgen einer fehlenden Anzeige).

Fall Sewel (C-402/24) – fehlerhafte Anzeige

  • In einem weiteren Insolvenzverfahren wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, die jedoch inhaltlich fehlerhaft war: Es fehlten insbesondere Angaben zum Stand und Ergebnis des Konsultationsverfahrens sowie Informationen, die der Agentur für Arbeit die Prüfung möglicher Abhilfemaßnahmen ermöglichen sollten (§ 17 Abs. 3 KSchG).
  • Die Agentur für Arbeit nahm die Anzeige gleichwohl entgegen und beanstandete sie nicht.
  • Mehrere Arbeitnehmer erhoben Kündigungsschutzklage. Da das BAG bislang nicht einheitlich entschieden hatte, ob eine inhaltlich mangelhafte Anzeige als Anzeige i. S. d. MERL anzusehen ist und welche Sanktionen bei Fehlern im Anzeigeverfahren vorzusehen sind, wurde auch dieser Fall dem EuGH vorgelegt.

Rechtlicher Hintergrund

  • Nach der bisherigen Rechtsprechung des (2. Senats des) BAG führte ein Verstoß gegen diese Anzeigepflicht – sei es durch eine unterbliebene oder eine fehlerhafte Anzeige – zur Nichtigkeit der Kündigung aufgrund eines Verstoßes gegen § 17 KSchG i. V. m. § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Diese Rechtsfolge der Nichtigkeit ist weder im KSchG ausdrücklich normiert noch unionsrechtlich zwingend vorgegeben.
  • § 18 KSchG setzt Art. 4 Abs. 1 MERL um und bestimmt, dass Entlassungen grundsätzlich erst nach Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam werden können.

Entscheidungsgründe

  • Fristbeginn nur bei ordnungsgemäßer Anzeige: Der EuGH stellt klar, dass Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung erst nach Ablauf der in Art. 4 Abs. 1 MERL vorgesehenen 30-Tage-Frist wirksam werden können. Zwingende Voraussetzung für den Fristbeginn ist eine ordnungsgemäße Anzeige gegenüber der zuständigen nationalen Behörde. Ohne eine solche Anzeige tritt kein Fristbeginn ein; die Kündigungen können daher nicht wirksam werden.
  • Unionsrechtlich zwingende Reihenfolge: Aus Art. 2–4 MERL folgt die Reihenfolge: Konsultation – Anzeige – Kündigung. Die Anzeige muss „beabsichtigte“ Entlassungen betreffen. Daher muss sie zeitlich vor dem Ausspruch der Kündigungen erfolgen.
  • Nachträgliche Heilung unionsrechtlich ausgeschlossen: Der EuGH betont in beiden Verfahren, dass eine nachträgliche Anzeige oder bloße Ergänzung fehlerhafter Angaben nach bereits erfolgtem Kündigungsausspruch unionsrechtlich unzulässig ist. Dies würde den Schutzzweck der MERL, insbesondere die Sicherstellung der 30-Tage-Frist und die frühzeitige Einbindung der Behörde, vereiteln.
  • Fehlerhafte Anzeige (Sewel) steht fehlender Anzeige gleich: Im Fall Sewel entschied der EuGH, dass eine Anzeige, die wesentliche Angaben nach Art. 3 Abs. 1 MERL nicht enthält, keine ordnungsgemäße Anzeige darstellt. Eine bloß entgegennehmende Haltung der Agentur für Arbeit begründet keine Heilung. Auch hier beginnt die Frist des Art. 4 MERL nicht zu laufen; die Kündigungen können nicht wirksam werden.
  • Nationale Sanktionsgestaltung: Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten Spielraum bei der Ausgestaltung der Sanktionen. Sie müssen jedoch, gemäß dem allgemeinen europarechtlichen Effet Utile-Grundsatz wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, und den unionsrechtlichen Schutzzweck sicherstellen. Die MERL schreibt nicht die Nichtigkeit der Kündigung vor, verbietet sie aber auch nicht. Eine bloß verspätete Wirksamkeit der Kündigung ohne weitergehende Rechtsfolgen hält der EuGH für unzureichend.

Folgen für die Praxis

Die - aus rechtspraktischer Sicht enttäuschenden – Entscheidungen des EuGH zementieren im Ergebnis die Unwirksamkeit von Massenentlassung-anzeigepflichtigen Kündigungen, demnach solche Kündigungen nur wirksam werden, wenn zuvor eine ordnungsgemäße und vollständige Massenentlassungsanzeige erstattet wurde.

Die Entscheidungen des EuGH sensibilisieren die Praxis, das Verfahren der Massenentlassung unverändert mit großer Sorgfalt durchzuführen. Eine nachträgliche Anzeige oder Ergänzung fehlender Angaben ist ausgeschlossen. Arbeitgeber haben daher sicherzustellen, dass sämtliche nach § 17 Abs. 3 KSchG/Art. 3 MERL erforderlichen Angaben – insbesondere zum Konsultationsverfahren – vollständig mitgeteilt werden, da die bloße Entgegennahme der Anzeige durch die Agentur für Arbeit keine heilende Wirkung entfaltet. Die vorgeschriebene Abfolge Konsultation – Anzeige – Kündigung ist strikt einzuhalten. Angesichts des damit verbundenen erheblichen Prozess- und Kostenrisikos, etwa durch verlängerte Beschäftigungszeiten oder Verzögerungen in Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren, ist eine sorgfältige Vorbereitung, Dokumentation und interne Abstimmung des gesamten Verfahrens weiterhin unerlässlich.

Keine Diskriminierung bei Befristung auf Altersgrenze – Differenzierung zwischen Beamten und Angestellten bei Zulagen zulässig

BAG Urt. v. 31.07.2025, 6 AZR 18/25

Das BAG entschied mit Urteil vom 31.07.2025 (6 AZR 18/25), dass der Diskriminierungsschutz des § 4 Abs. 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) nicht für Arbeitsverhältnisse gilt, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze befristet sind. Eine Ungleichbehandlung gegenüber Beamten bei der Gewährung von Erschwerniszulagen ist zulässig, da Beamte und Tarifbeschäftigte unterschiedlichen Berufsgruppen mit eigenen Normsystemen angehören. Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz greift nicht, wenn der Arbeitgeber lediglich gesetzliche oder tarifliche Vorgaben umsetzt und kein eigenes Regelwerk schafft.

Sachverhalt

  • Die Parteien streiten über die Zahlung einer Erschwerniszulage für die Klägerin. Die Klägerin ist seit dem 01.11.2018 auf Grundlage eines Arbeitsvertrags der Bezug auf das Tarifwerk für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) nimmt, beim beklagten Land beschäftigt.
  • Seit Dezember 2022 arbeitet die Klägerin in einer Observationsgruppe des Nachrichtendienstes, in der sowohl Arbeitnehmer als auch Beamte tätig sind und gleichartige Aufgaben erfüllen.
  • Die Erschwerniszulagenverordnung (EZulV) des beklagten Landes regelt Zulagen für besondere Erschwernisse, die nicht in der Amtsbewertung berücksichtigt sind. Polizeivollzugsbeamte erhalten nach § 22 Abs. 3 Alt. 2 EZulV für den Einsatz in Observationsgruppen eine monatliche Zulage von 388 Euro; Tarifbeschäftigte wie die Klägerin erhalten diese Zulage nicht.
  • Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zahlung dieser Zulage für den Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2024 sowie die Feststellung einer Zahlungspflicht für die Zukunft.
  • Sie stützte ihren Anspruch auf das Diskriminierungsverbot für befristet Beschäftigte (§ 4 Abs. 2 TzBfG), Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), Art. 20 EU-Grundrechtecharta (GRC) sowie den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Klägerin argumentierte, ihr Arbeitsverhältnis sei befristet auf die Regelaltersgrenze und daher vom unionsrechtlichen Diskriminierungsschutz umfasst; Beamte seien als vergleichbare Dauerbeschäftigte heranzuziehen.
  • Das beklagte Land stützt die Ungleichbehandlung auf strukturelle Unterschiede zwischen Beamten- und Arbeitsverhältnissen und beruft sich auf die Tarifautonomie.

Entscheidungsgründe

  • Das BAG lehnte einen Anspruch auf die Erschwerniszulage ab.
  • Auslegung von § 4 Abs. 2 TzBfG: Der Schutz des § 4 Abs. 2 TzBfG für befristet Beschäftigte erstreckt sich nicht auf Arbeitsverhältnisse, die mit Erreichen der Regelaltersgrenze enden. Solche Arbeitsverhältnisse gelten als „Normalarbeitsverhältnisse“ und begründen kein erhöhtes Schutzbedürfnis wie typische Befristungen. Dem steht auch die Rahmenvereinbarung der europäischen Richtlinie 1999/70/EG nicht entgegen, da das TzBfG gerade den Missbrauch einer Befristung verhindern soll.
  • Verhältnis zu Art. 20 GRC und Art. 3 Abs. 1 GG: § 4 Abs. 2 TzBfG konkretisiert den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 20 GRC; eine zusätzliche Prüfung führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt Gleichbehandlung nur bei wesentlich gleichen Sachverhalten. Beamte und Tarifbeschäftigte gehören unterschiedlichen Berufsgruppen mit eigenen Normsystemen; daher ist die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt.
  • Maßstäbe für den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz: Der Gleichbehandlungsgrundsatz greift nur bei gestaltendem Verhalten des Arbeitgebers, nicht bei bloßem Normvollzug. Wenn der Arbeitgeber lediglich gesetzliche oder tarifliche Vorgaben umsetzt, besteht kein Anspruch auf Gleichbehandlung. Eine übertarifliche Zulage für bestimmte Gruppen begründet keine Pflicht zur Ausweitung auf andere Gruppen, wenn diese Differenzierung aus der Anwendung unterschiedlichen Normen folgt.

Folgen für die Praxis

Das Urteil stellt klar, dass Arbeitsverhältnisse, die auf die Regelaltersgrenze befristet sind, nicht unter den besonderen Diskriminierungsschutz des § 4 Abs. 2 TzBfG fallen. Arbeitgeber können daher weiterhin Altersgrenzenregelungen vereinbaren, ohne zusätzliche Gleichbehandlungsansprüche befürchten zu müssen. Unterschiede zwischen Beamten und Tarifbeschäftigten sind zulässig, da sie auf unterschiedlichen Normsystemen beruhen; eine Pflicht zur Angleichung besteht nicht. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz greift nur bei eigenem Gestaltungsspielraum des Arbeitgebers, nicht bei bloßem Normvollzug – dies gibt Unternehmen Rechtssicherheit bei der Umsetzung gesetzlicher oder tariflicher Vorgaben. Insgesamt stärkt das Urteil die Bedeutung der Tarifautonomie.

Schutz betreuender Eltern behinderter Kinder 

EuGH Urt. v. 11.09.2025, C-38/24

Der EuGH hat klargestellt, dass das unionsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung auch Arbeitnehmer erfasst, die selbst nicht behindert sind, jedoch wegen der Unterstützung ihres behinderten Kindes benachteiligt werden. Das Verbot umfasst ausdrücklich auch mittelbare „Mitdiskriminierungen“. Zugleich bejaht der EuGH eine Pflicht des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen i.S.v. Art. 5 RL 2000/78/EG auch zugunsten solcher Betreuungspersonen zu treffen, soweit dies den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet.

Sachverhalt

  • Die Klägerin war in Italien als „Stationsaufsicht“ bei einer U-Bahn-Betreiberin beschäftigt. Die übrigen Stationsaufsichten arbeiteten im Schichtdienst mit wechselnden Arbeitszeiten.
  • Die Klägerin betreute ihren schwerbehinderten, vollinvaliden, minderjährigen Sohn, der bei ihr lebte und nachmittags zu festen Zeiten an einem Behandlungsprogramm teilnehmen musste.
  • Die Klägerin beantragte wiederholt, dauerhaft an einem bestimmten Arbeitsplatz mit festen, ausschließlich vormittäglichen Arbeitszeiten eingesetzt zu werden, um ihre Betreuungspflichten erfüllen zu können.
  • Die Arbeitgeberin lehnte eine dauerhafte Umgestaltung der Arbeitsbedingungen ab, gewährte der Klägerin jedoch vorübergehend Erleichterungen (fester Einsatzort und im Vergleich zu den übrigen Stationsaufsichten günstigere Arbeitszeiten).
  • Die Klägerin klagte auf Feststellung einer Diskriminierung und verlangte u.a. die dauerhafte Zuweisung eines Vormittagsarbeitsplatzes (8.30 Uhr bis15.00 Uhr), die Beseitigung der Diskriminierung sowie Schadensersatz. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab, u.a. mit der Begründung, es liege keine Diskriminierung vor bzw. es seien bereits angemessene Vorkehrungen getroffen worden.
  • Die Corte suprema di cassazione legte dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung der RL 2000/78/EG im Lichte der Grundrechtecharta und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vor, vor allem zur mittelbaren Diskriminierung eines Arbeitnehmers, der als familiäre Betreuungsperson eines behinderten Kindes tätig ist, sowie zur Pflicht des Arbeitgebers, diesem gegenüber angemessene Vorkehrungen zu treffen.

Entscheidungsgründe

  • Mittelbare Diskriminierung „durch Assoziation“: Der EuGH bestätigt, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen Behinderung (Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG) auch Arbeitnehmer schützt, die nicht selbst behindert sind, sondern ein behindertes Kind betreuen. Eine neutrale arbeitsorganisatorische Regelung – etwa ein starrer Schichtplan – kann eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wenn sie ausgerechnet betreuende Eltern behinderter Kinder besonders benachteiligt und diese Benachteiligung mit der Behinderung des Kindes in Zusammenhang steht. Der EuGH knüpft hierbei an die Entscheidung „Coleman“ an und erweitert den unionsrechtlichen Diskriminierungsschutz ausdrücklich auf mittelbare Benachteiligungen im familiären Kontext.
  • Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen für Betreuungspersonen: Der EuGH bejaht zudem eine Pflicht des Arbeitgebers zur Vornahme angemessener Vorkehrungen (Art. 5 RL 2000/78/EG) zugunsten von Arbeitnehmern, die ein behindertes Kind betreuen. Diese Pflicht ist nicht auf behinderte Arbeitnehmer beschränkt, sondern dient auch dazu, mittelbare Benachteiligungen von Betreuungspersonen zu vermeiden. Als mögliche Vorkehrungen kommen u. a. Anpassungen der Arbeitszeiten, eine Einsatzortfestlegung oder andere organisatorische Maßnahmen in Betracht, sofern sie erforderlich sind, um die Betreuung des behinderten Kindes sicherzustellen und eine diskriminierende Wirkung arbeitszeitlicher Vorgaben zu verhindern.
  • Weite Auslegung im Lichte der Grundrechte und der UN-BRK: Die Richtlinie 2000/78/EG ist nach Auffassung des EuGH im Licht der Grundrechtecharta (vor allem Art. 21, 24, 26) und der UN-Behindertenrechtskonvention auszulegen. Diese Rechtsinstrumente verlangen einen verstärkten Schutz behinderter Personen und derjenigen, die wesentlich zu ihrer Unterstützung beitragen. Daraus folgt ein unionsrechtlich gebotenes Verständnis, das den Diskriminierungsschutz nicht auf behinderte Arbeitnehmer selbst beschränkt, sondern funktional auf die familiäre Betreuung ausdehnt, wenn diese die Voraussetzung für die Ausübung der Rechte des behinderten Kindes bildet.
  • Grenzen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen ist durch das Erfordernis der Zumutbarkeit begrenzt. Arbeitgeber müssen Anpassungen nur insoweit vornehmen, als diese keine unverhältnismäßige Belastung darstellen. Für die Beurteilung sind insbesondere die betrieblichen Strukturen, der organisatorische Aufwand, die Personalausstattung und die wirtschaftlichen Ressourcen des Unternehmens zu berücksichtigen. Die konkrete Prüfung – etwa ob eine dauerhafte Vormittagsschicht im konkreten Betrieb möglich und zumutbar ist – obliegt dem nationalen Gericht.

Folgen für die Praxis

Arbeitgeber müssen Anträge von Arbeitnehmern, die ein behindertes Kind betreuen, künftig systematisch darauf prüfen, ob ihre Arbeitszeit- oder Einsatzregelungen diese Beschäftigten mittelbar benachteiligen, und ihnen angemessene Vorkehrungen wie etwa angepasste Arbeitszeiten oder feste Einsatzorte ermöglichen, soweit dies keine unverhältnismäßige Belastung darstellt. Dies erfordert eine sorgfältige, dokumentierte Einzelfallprüfung und eine substantielle Begründung, wenn Anpassungen abgelehnt werden sollen. Starre Schicht- oder Einsatzmodelle müssen gegebenenfalls überarbeitet werden, um Diskriminierungsrisiken zu vermeiden.

Planungszeitpunkt entscheidend für Anwendbarkeit des KSchG 

LAG Berlin-Brandenburg Urt. v. 25.07.2025, 12 SLa 640/25

Das LAG Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass die Kündigung des Klägers unwirksam ist, weil das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) Anwendung findet und die Beklagte die soziale Rechtfertigung nicht darlegen konnte. Maßgeblich für die Betriebsgröße ist nicht die Zahl der Beschäftigten zum Kündigungszeitpunkt, sondern die Zahl im Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung zum Personalabbau, wenn dieser auf einer einheitlichen Planung beruht. Da der Restbetrieb bei seiner Konstituierung mehr als zehn Beschäftigte hatte, lag kein Kleinbetrieb vor.

Sachverhalt

  • Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung. Der Kläger war seit dem 17.05.2004 als Konstrukteur bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt insgesamt ca. 49.000 Mitarbeiter.
  • Zum 01.07.2023 ging die Geschäftseinheit, zu der der Betrieb des Klägers gehörte, im Wege eines Betriebsübergangs auf ein anderes Unternehmen über.
  • Der Kläger widersprach dem Betriebsübergang und wurde zusammen mit 37 weiteren Widersprechenden einem sogenannten Restbetrieb zugeordnet. Dieser Restbetrieb wurde eingerichtet, um die Arbeitsverhältnisse der Widersprechenden schrittweise zu beenden.
  • Zwischen August 2023 und Februar 2024 bewarb sich der Kläger erfolglos auf interne 41 Stellen,
  • Am 30.01.2024 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.08.2024. Zum Kündigungszeitpunkt waren im Restbetrieb noch 5 Arbeitnehmer beschäftigt. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und beantragte zusätzlich Weiterbeschäftigung. Er meint, die Kündigung sei aufgrund der Anwendbarkeit des KSchG sozial ungerechtfertigt.
  • Die Beklagte hielt dagegen, der Restbetrieb sei ein eigenständiger Kleinbetrieb mit nur fünf Beschäftigten und eine Weiterbeschäftigung sei nicht möglich.

Entscheidungsgründe

  • Das LAG Berlin-Brandenburg entschied, dass die Kündigung unwirksam war.
  • Anwendbarkeit des KSchG: Das Gericht stellte klar, dass die Schwellenwertregelung des § 23 Abs. 1 KSchG nicht allein auf die Zahl der Beschäftigten zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs abstellt. Nach der Rechtsprechung des BAG ist bei einem einheitlich geplanten Personalabbau der Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung entscheidend, nicht der spätere Kündigungszeitpunkt. Das Gericht betonte, dass eine andere Sichtweise zur Umgehung des Kündigungsschutzes führen könnte, indem Arbeitgeber den Schwellenwert bewusst durch stufenweise Reduzierung unterschreiten. Eine einheitliche unternehmerische Planung lag hier vor, da der Restbetrieb ausschließlich mit dem Ziel geführt wurde, die Arbeitsverhältnisse der Widersprechenden zu beenden. Deshalb ist auf die Beschäftigtenzahl mit mehr als zehn Beschäftigten bei Konstituierung des Restbetriebs im Juli 2023 abzustellen, sodass das KSchG Anwendung findet.
  • Soziale Rechtfertigung der Kündigung: Bei Anwendbarkeit des KSchG bedarf eine Kündigung einer sozialen Rechtfertigung. Eine betriebsbedingte Kündigung ist dann nach § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt, wenn eine Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz möglich ist. Den Arbeitgeber trifft eine abgestufte Darlegungslast (§ 1 Abs. 2 S. 4 KSchG) dafür, dass keine anderweitige Beschäftigung möglich ist. Dieser ist die Beklagte nicht nachgekommen. Der Kläger hatte durch 41 interne Bewerbungen konkrete Stellen benannt, die zum Kündigungszeitpunkt noch nicht besetzt waren. Die Beklagte hätte konkret darlegen müssen, warum eine Umsetzung auf diese Stellen nicht möglich war. Pauschale Behauptungen („keine passende Stelle“) genügen nicht. Die bloße Erfolglosigkeit der Bewerbungen ersetzt die gesetzliche Pflicht zur Weiterbeschäftigung nicht.
  • Die von der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat das BAG mit Beschluss vom 17.10.2025 (2 AZN 464/25) verworfen.

Folgen für die Praxis

Das Urteil sensibilisiert Arbeitgeber bei der zeitlichen Steuerung von Umstrukturierungen mit/ohne Auslagerungen. Arbeitgeber sollten, soweit operativ darstellbar, bei der Berechnung der Betriebsgröße bereits den Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung zum Personalabbau berücksichtigen, wenn dieser auf einer einheitlichen Planung beruht. Dies erhöht das Risiko, dass Kündigungen auch in vermeintlichen „Restbetrieben“ dem Kündigungsschutz unterliegen.

Trauerrede als Scherz in WhatsApp-Gruppe rechtfertigt keine Kündigung

LAG Schleswig-Holstein Urt. v. 19.08.2025, 1 Sa 104/25

Das LAG Schleswig-Holstein entschied in seinem Urteil über die Wirksamkeit zweier fristloser sowie hilfsweise ordentlicher Kündigungen im Zusammenhang mit einer als Scherz gemeinten „Trauerrede“ in einer WhatsApp-Gruppe.

Sachverhalt

  • Der Kläger, Mitarbeiter im Bereich Logistik/Patiententransport und Mitglied der Werkfeuerwehr, erstellte am 21.07.2024 während seiner Pause ein Video, in dem er den angeblichen Tod eines Kollegen im Stil einer Trauerrede mit unterlegter Trauermusik (Avé Maria)- über die Außenlautsprecher des Gerätewagens der Werkfeuerwehr - bekanntgab. Das Video wurde in einer WhatsApp Gruppe mit wenigen Kollegen – einschließlich des „Betroffenen“ geteilt.
  • Der von der Trauerrede betroffene Kollege reagierte amüsiert und fühlte sich nicht beeinträchtigt; auch die übrigen Gruppenmitglieder nahmen das Video als Scherz wahr.
  • Die beklagte Arbeitgeberin erfuhr erst am 04.10.2024 von dem Video, hörte Kläger und Kollegen an und leitete schließlich die Anhörung des Betriebsrats zur fristlosen und hilfsweisen ordentlichen Kündigung ein.
  • Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit Schreiben vom 25.10.2024, dennoch kündigte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 30.10.2024 fristlos sowie hilfsweise ordentlich. Da der Kläger die Kündigung wegen des Fehlens einer beigefügten Originalvollmacht zurückwies, sprach die Arbeitgeberin eine erneute Kündigung aus. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage.
  • Die Arbeitgeberin berief sich zusätzlich auf ein angebliches Umparken eines Feuerwehrfahrzeugs, das die Einsatzfähigkeit gefährdet habe; der Betriebsrat war hierzu jedoch nicht angehört worden.
  • Das Arbeitsgericht gab der Klage statt; die Arbeitgeberin legte Berufung ein.

Entscheidungsgründe

  • Das LAG Schleswig-Holstein entschied, dass ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung nicht vorgelegen habe, insbesondere, da das Video eindeutig als geschmackloser „Scherz“ zu erkennen sei und keine Schädigungsabsicht gegenüber dem betroffenen Kollegen bestanden habe.
  • Der Kläger habe zwar seine Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB verletzt, da die unzutreffende Mitteilung über den Tod eines Kollegen objektiv geeignet sei, den Betriebsfrieden zu stören.
  • Die Aufnahme sei jedoch ausschließlich in einer Halle erfolgt, von niemandem außerhalb wahrgenommen worden und nur innerhalb einer kleinen WhatsApp-Gruppe mit maximal fünf Kollegen verbreitet worden. Damit fehlte es an jeder Außenwirkung und an der Möglichkeit, den Ruf der Arbeitgeberin zu schädigen.
  • Das Video wurde während einer Arbeitspause aufgenommen. Das spätere Hochladen während der Arbeitszeit stellte keine erhebliche Pflichtverletzung dar, da es nur wenige Sekunden dauerte und nicht erkennbar war, dass der Kläger dadurch seine Arbeitspflichten vernachlässigte.
  • Das behauptete Umparken des Feuerwehrfahrzeugs dürfe nicht berücksichtigt werden, da es einen eigenen Kündigungssachverhalt darstelle und dieser dem Betriebsrat nicht mitgeteilt wurde; ein Nachschieben im Prozess sei daher unzulässig.
  • Die Pflichtverletzung des Klägers rechtfertigte keine fristlose Kündigung, da zuvor eine Abmahnung erforderlich gewesen wäre. Ein einmaliger, erkennbar scherzhafter Verstoß ohne Außenwirkung mache eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar.
  • Auch die hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigungen waren sozial ungerechtfertigt, weil es ebenfalls einer Abmahnung bedurft hätte.
  • Aufgrund der Unwirksamkeit aller Kündigungen bestehe ein Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers.

Folgen für die Praxis

Für Arbeitgeber zeigt die Entscheidung, dass geschmacklose, aber klar als Scherz erkennbare Äußerungen in kleinen, geschlossenen WhatsApp-Gruppen regelmäßig keine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen, solange weder Außenwirkung noch eine tatsächliche Störung des Betriebsfriedens eintritt. Auch die Nutzung von Dienstmitteln reicht ohne konkrete betriebliche Beeinträchtigung nicht aus. Die Entscheidung sensibilisiert zudem Arbeitgeber (einmal mehr) zu einer sorgfältigen und vollständigen Unterrichtung des Betriebsrats über den relevanten Kündigungssachverhalt; nicht mitgeteilte Vorwürfe können im Kündigungsrechtsstreit nicht nachgeschoben werden.

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