Monthly Dose Arbeitsrecht 06/2025

Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis

Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der sechsten Ausgabe 2025 die Entscheidungen:

Unverhältnismäßig lange Probezeit bei befristeten Arbeitsverhältnissen - Ende der “Gleichschaltung” des befristeten Arbeitsverhältnisses zur Probe mit einer vereinbarten Probezeit

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 05.12.2024 (2 AZR 275/23) entschieden, dass eine Probezeit nicht die gesamte Laufzeit eines befristeten Arbeitsvertrags umfassen darf. Eine derartige Regelung ist regelmäßig unverhältnismäßig und daher unwirksam.

Sachverhalt
  • Die Parteien streiten darüber, ob - und gegebenenfalls wann - das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung des Beklagten beendet wurde.
  • Der Kläger war ab dem 01.09.2022 als Serviceberater/Kfz-Meister bei der Beklagten, die ein Autohaus betreibt, angestellt. Der schriftliche Arbeitsvertrag vom 22.08.2022 sah eine Befristung bis zum 28.02.2023 vor, verbunden mit einer Probezeit, die ebenfalls bis zum 28.02.2023 dauern sollte. Während der Probezeit sollte eine Kündigungsfrist von zwei Wochen gelten. Weitergehende Regelungen zu einer möglichen ordentlichen Kündigung enthielt der Arbeitsvertrag nicht.
  • Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 28.10.2022 zum 11.11.2022.
  • Der Kläger hielt die Kündigung für unwirksam. Er argumentierte, dass die Probezeitregelung unzulässig sei, da sie die gesamte Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses umfasse. Zudem fehle es seiner Ansicht nach an einer wirksamen Vereinbarung über eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit.
  • Mit seiner Klage begehrte er die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht zum 11.11.2022 geendet habe, sondern darüber hinaus fortbestehe. Sowohl das Arbeitsgericht Lübeck als auch das LAG Schleswig-Holstein wiesen die Klage ab. Der Kläger legte Revision beim BAG ein.
Entscheidungsgründe
  • Unwirksamkeit einer mit der befristeten Vertragslaufzeit gleichlaufenden Probezeitvereinbarung: Das BAG erkannte, dass eine Probezeit, die die gesamte Laufzeit des befristeten Arbeitsverhältnisses umfasst, in der Regel gegen § 15 Abs. 3 TzBfG (Teilzeit- und Befristungsgesetz) verstößt und daher unwirksam ist. Der seit dem 01.08.2022 geltende § 15 Abs. 3 TzBfG setzt EU-rechtliche Vorgaben aus der EU-Richtlinie 2019/1152 (Nachweis-RL) um. Danach muss die Dauer der Probezeit in einem angemessenen Verhältnis zur Dauer der Befristung und zur Art der Tätigkeit stehen.
  • Unionsrechtskonforme Auslegung: Das Gericht bestätigte, dass Art. 8 Abs. 2 der Nachweis-Richtlinie vergleichbare Verhältnismäßigkeit verlangt. Eine Probezeit, die mit der gesamten Vertragslaufzeit identisch ist, widerspricht diesem Grundsatz.
  • Ordentliche Kündbarkeit bleibt bestehen: Die Unwirksamkeit der Probezeitregelung hatte zur Folge, dass die verkürzte Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 3 BGB keine Anwendung findet. Es gilt stattdessen die gesetzliche Grundregel des § 622 Abs. 1 BGB (vier Wochen zum 15. oder Monatsende). Das BAG erkannte trotz der Unwirksamkeit der Probezeitklausel in dieser Klausel zugleich die Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung im Sinne des § 15 Abs. 4 TzBfG, demnach die vertragliche Klausel für den verständigen Arbeitnehmer erkennbar die Regelung enthalte, dass das Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Befristung in jedem Fall ordentlich gekündigt werden können solle.
  • Folge: Das BAG wertete die Kündigung zum 11.11.2022 als ordentliche Kündigung zum nächstmöglichen Zeitpunkt nach § 622 Abs. 1 BGB. Das Arbeitsverhältnis endete daher mit Ablauf des 30.11.2022.
Folgen für die Praxis

Das BAG läutet mit dieser Entscheidung, nach dem Inkrafttreten des § 15 Abs. 3 TzBfG, endgültig das Ende der vertraglichen Praxis zur "Gleichschaltung" der Dauer eines befristeten Arbeitsverhältnisses zur Probe (= mit einer maximal sechsmonatigen Dauer zur Vermeidung der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) auf das befristete Arbeitsverhältnis) mit einer vereinbarten Probezeit ein. Arbeitgeber sollten bei befristeten Arbeitsverträgen die Dauer der Probezeit sorgfältig und verhältnismäßig zur Vertragslaufzeit ausgestalten. Hierzu bietet sich als Regelsatz bei einer Befristung des Arbeitsverhältnisses bis zu einer 12-monatigen Dauer der Ansatz einer Probezeit von 50% der befristeten Vertragslaufzeit an. Zudem empfiehlt es sich, die Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung stets ausdrücklich und unabhängig von der Probezeit zu regeln, um rechtliche Unsicherheiten zu vermeiden und eine ordnungsgemäße Vertragsbeendigung sicherzustellen.

In der Regel kein böswilliges Unterlassen der Arbeitssuche während einer Freistellung in der Kündigungsfrist

In seinem Urteil vom 12.02.2025 (5 AZR 127/24) erkannte das BAG, dass ein freigestellter Arbeitnehmer nach einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses in der Regel nicht böswillig die Aufnahme anderweitigen Verdienstes im Sinne des § 615 Satz 2 BGB unterlässt, wenn er während der laufenden Kündigungsfrist keine neue Beschäftigung aufnimmt.

Sachverhalt
  • Der Kläger war seit November 2019 als Senior Consultant bei der Beklagten beschäftigt und bezog zuletzt ein Bruttogehalt von 6.440 EUR monatlich.
  • Mit Schreiben vom 29.03.2023 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.06.2023 unter Einhaltung der Kündigungsfrist. Zugleich stellte sie den Kläger unwiderruflich unter Anrechnung von elf Urlaubstagen von der Arbeitsleistung frei.
  • Das Kündigungsschreiben enthielt den Hinweis, dass während der Freistellung erzielte Einkünfte auf die Vergütung angerechnet würden.
  • Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und machte darüber hinaus die Vergütung für den Monat Juni 2023 geltend.
  • Die Beklagte verweigerte die Zahlung unter Berufung auf § 615 Satz 2 BGB. Sie hatte dem Kläger insgesamt 43 Stellenangebote zugesandt, auf die sich der Kläger jedoch erst ab Ende Juni 2023 auf insgesamt sieben beworben habe.
Entscheidungsgründe
  • Das BAG bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen und gab der Klage statt. Es erkannte, dass sich der Arbeitgeber im Annahmeverzug befunden hatte, da das Arbeitsverhältnis trotz Freistellung fortbestand und der Kläger seine Arbeitsleistung nicht mehr erbringen konnte. Die Beklagte schulde dem Kläger die vereinbarte Vergütung gemäß § 615 S. 1 i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB.
  • Weder aus dem Arbeitsvertrag noch aus gesetzlichen Vorschriften ergab sich eine Verpflichtung des Klägers, während der Kündigungsfrist eine neue Tätigkeit aufzunehmen, um die Beklagte finanziell zu entlasten.
  • Eine böswillige Unterlassung i.S.d. § 615 S. 2 BGB setze voraus, dass der Arbeitnehmer vorsätzlich zumutbare Arbeit nicht aufnimmt, obwohl ihm alle relevanten Umstände bekannt sind. Diese Voraussetzungen lagen nach Auffassung des Gerichts nicht vor.
  • Sowohl das Kündigungsschreiben als auch der Arbeitsvertrag sahen lediglich eine Anrechnung tatsächlich erzielter Einkünfte vor - nicht jedoch aber fiktiver oder nur möglicher Einnahmen. Eine Pflicht zur Bewerbung auf übermittelte Stellen folgt daraus nicht, da § 615 BGB dispositiver Natur sei und daher von den Arbeitsvertragsparteien -auch konkludent- abbedungen werden kann.
  • Zudem konnte die Beklagte nicht ausreichend darlegen, dass der Kläger durch Annahme einer der angebotenen Stellen tatsächlich hätte Einkommen erzielen können. Hinzu kam, dass das auch während der Freistellung fortgeltende vertragliche Wettbewerbsverbot eine neue Tätigkeit möglicherweise erschwert hätte.
  • Nach Ansicht des Gerichts wäre es mit dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht vereinbar, von einem Arbeitnehmer während eines noch bestehenden Arbeitsverhältnisses zu verlangen, eine neue Beschäftigung aufzunehmen, nur weil er einseitig freigestellt wurde.
Folgen für die Praxis

Möchte sich der Arbeitgeber eine Anrechnung von während einer Freistellung des Arbeitnehmers in der Kündigungsfrist nach Kündigung anderweitig erzielten Verdienstes bzw. dessen Unterlassung vorbehalten, hat er dies bereits im Arbeitsvertrag transparent zu regeln, um dieser restriktiven Rechtsprechung des BAG zur dispositiven Natur des § 615 BGB zu genügen. Dabei sollte in der relevanten arbeitsvertraglichen Regelung – und auch in der entsprechenden Verlautbarung nach der Kündigung – transparent geregelt werden, ob und in welchem Umfang anderweitiger Verdienst auf die Vergütung angerechnet wird. Enthält der Arbeitsvertrag eine solche transparente Regelung, unterliegt dem Arbeitgeber bei Geltendmachung des Unterlassens der Erzielung des relevanten anderweitigen Verdienstes die Darlegungs- und Beweislast für die konkrete Verdiensthöhe. Hierzu sollte der Arbeitgeber im entsprechenden Sachverhalt eine bedarfsgerechte „Papierspur“ legen.

Keine Beweiswirkung automatisierter Pausenzeitenabzüge – Darlegungslast in Rechtsstreiten zur Vergütung von Mehrarbeit

Das BAG hat in seinem Urteil vom 12.02.2025 (5 AZR 51/24) entschieden, dass ein automatischer Abzug von Pausenzeiten im angewendeten Zeiterfassungssystem nicht beweist, dass diese tatsächlich genommen wurden, und dass der Arbeitgeber konkret darlegen muss, wann und wie Pausen tatsächlich gewährt oder ermöglicht wurden.

Sachverhalt
  • Die Parteien streiten über die Vergütung von Mehrarbeit, insbesondere darüber, ob die Klägerin Pausen in Anspruch genommen hat.
  • Die Klägerin war von September 2017 bis August 2019 in dem von der Beklagten betriebenen Klinikum als Assistenzärztin in einem Teilzeitarbeitsverhältnis mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden (= 75% einer Vollzeittätigkeit) beschäftigt, wobei sich die Stunden auf jeweils sechs Stunden montags bis freitags von 07:30 Uhr bis 13:30 Uhr verteilten.
  • Auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern vom 17. August 2006 (TV-Ärzte/VKA) Anwendung. Der TV-Ärzte/VKA differenziert in der Vergütung von Mehrarbeit zwischen Vollzeit- und Teilzeitkräften, demnach die von Arbeitnehmern in einem Teilzeitarbeitsverhältnis verrichtete Mehrarbeit mit dem anteiligen Regelentgelt vergütet und (erst) die über die Arbeitszeit in einem Vollzeit-Arbeitsverhältnis hinausgehende Mehrarbeit neben dem anteiligen Regelentgelt zusätzlich mit einem Mehrarbeitszuschlag von 15% vergütet wird.
  • Die Arbeitszeit wird durch ein elektronisches System dokumentiert, basierend auf einer Betriebsvereinbarung über flexible Arbeitszeiten (BV Arbeitszeit), die Ende 2018 gekündigt und nicht ersetzt wurde. Wenn Pausen nicht dokumentiert oder die Mindestdauer unterschritten wurden, erfolgte nach der BV Arbeitszeit ein automatischer Abzug von der Arbeitszeit. Tatsächlich gebuchte Pausen und automatisch abgezogene Pausen wurden dabei unterschiedlich gekennzeichnet.
  • Angesichts der Teilzeittätigkeit der Klägerin mit einer täglichen regelmäßigen Arbeitszeit von 6 Stunden war nach dem Arbeitszeitgesetz grundsätzlich keine Pause vorgesehen. Eine Pausenpflicht entstand nur bei einem Überschreiten der sechsstündigen Regelarbeitszeit – zu diesem Zeitpunkt war jeweils die vorgesehene Festpause (12:00–12:30 Uhr) in der Regel bereits verstrichen.
  • Von September 2018 bis August 2019 arbeitete die Klägerin regelmäßig über ihre Sollarbeitszeit hinaus. Es wurden im Zeiterfassungssystem über 59 Stunden automatisch als Pause abgezogen.
  • Die Klägerin machte geltend, sie habe durchgehend gearbeitet und keine Pausen genommen, was der Arbeitgeber geduldet habe. Sie berief sich unter anderem auf § 14 TV-Ärzte/VKA, der ihrer Auffassung nach eine abgestufte Darlegungspflicht begründe. § 14 TV-Ärzte/VKA bestimmt, dass „[die Arbeitszeiten der Ärztinnen und Ärzte durch elektronische Verfahren oder auf andere Art mit gleicher Genauigkeit so zu erfassen [sind], dass die gesamte Anwesenheit am Arbeitsplatz dokumentiert ist. Dabei gilt die gesamte Anwesenheit der Ärztinnen und Ärzte abzüglich der tatsächlich gewährten Pausen als Arbeitszeit.
  • Die Beklagte trug vor, die Klägerin habe keine Mehrarbeit dargelegt; die Pausen seien wirksam gewährt worden. Die Klage wurde abgewiesen, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ebenfalls. Das BAG hob diese Entscheidungen auf.
Entscheidungsgründe
  • Keine Beweiswirkung der systemseitigen automatischen Pausenabzüge: Der automatische Abzug im Zeiterfassungssystem inkludiert keinen Beweis für die tatsächliche Inanspruchnahme der Pause. Der Arbeitgeber muss konkret darlegen, wann und wie Pausen gewährt oder ermöglicht wurden.
  • Darlegungs- und Beweislast: Arbeitnehmer müssen im Überstundenvergütungsprozess darlegen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten sie gearbeitet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Verfügung gehalten haben. Der Arbeitgeber muss dann substantiiert erwidern, welche Arbeiten zugewiesen wurden, wann der Arbeitnehmer tatsächlich nicht gearbeitet hat und ob Pausen ermöglicht wurden. Ein Bestreiten mit Nichtwissen ist unzulässig.
  • Arbeitgeberseitige Veranlassung von Überstunden: Auch Überstunden müssen angeordnet, gebilligt, geduldet oder zur Erledigung der Arbeit erforderlich gewesen sein. Die Klägerin hat ausreichend zur betrieblichen Notwendigkeit vorgetragen – nun muss die Beklagte konkret entkräften, dass Pausen möglich gewesen wären.
  • Teilzeitbezogene Besonderheit: Die Festpausenregelung galt nicht für die Klägerin, weil sie planmäßig nur 6 Stunden arbeitete. Arbeitgeberseitige Pausenanordnungen fehlten, obwohl regelmäßig über die Sollarbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Das Verhalten der Beklagten deutet auf Billigung der Mehrarbeit hin.
  • Keine Darlegungs- oder Beweislastumkehr durch § 14 TV-Ärzte/VKA: § 14 regelt ausschließlich die arbeitszeitbezogene Dokumentationspflicht aus arbeitsschutzrechtlicher Sicht. Die Zeiterfassung dient nicht der Vergütungskontrolle, sondern dem Arbeitsschutz.
Folgen für die Praxis

Das Urteil sensibilisiert Arbeitgeber mit elektronischen Zeiterfassungssystemen, nachvollziehbare und für ihr Unternehmen praxisgerechte Regelungen und Dokumentationen zu Pausen und Arbeitszeiten anzuwenden. Zeiterfassungssysteme können dabei nicht als Ersatz für die tatsächliche Kontrolle der Pausen verwendet werden. Werden im Zeiterfassungssystem automatisch abgezogene Pausen vom jeweiligen Arbeitnehmer tatsächlich nicht genommen, kann dies zu vergütungspflichtiger Arbeitszeit führen, wenn der Arbeitgeber dies duldet oder nicht unterbindet.
Das BAG hat die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und den Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das LAG zurückverwiesen. Das BAG weist das LAG an, im weiteren Verfahren zu prüfen, ob die Differenzierung zwischen Mehrarbeit (kein Zuschlag) und Überstunden (15 %-Zuschlag) eine unzulässige Benachteiligung von Teilzeitkräften (§ 4 Abs. 1 TzBfG) darstellt.

Verspätete Zielvorgaben für variable Vergütung als Haftungsrisiko für Arbeitgeber

Das BAG entschied in seinem Urteil vom 19.02.2025 (10 AZR 57/24), dass Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch gegen den Arbeitgeber haben können, wenn dieser schuldhaft gegen seine arbeitsvertragliche Verpflichtung verstößt, dem Arbeitnehmer rechtzeitig für eine Zielperiode Ziele vorzugeben, an deren Erreichen die Zahlung einer variablen Vergütung geknüpft ist und eine nachträgliche Zielvorgabe ihre Motivations- und Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann.

Sachverhalt
  • Der Kläger war seit Juli 2016 als Head of Advertising bei der Beklagten beschäftigt. Gemäß seinem Arbeitsvertrag hatte er Anspruch auf ein Jahreszielgehalt in Höhe von 95.000 EUR brutto, das sich aus einem Fixgehalt in Höhe von 66.500 EUR brutto und einem variablen Bonusanteil in Höhe von 28.500 EUR brutto zusammensetzt. Die variablen Ziele sollten jährlich durch den Vorgesetzten im Rahmen einer einseitigen Zielvorgabe festgelegt werden.
  • Am 12.03.2019 trat eine Betriebsvereinbarung (BV) in Kraft, die rückwirkend zum 01.01.2019 das Vergütungsmodell neu regelte. Für Führungskräfte wie den Kläger bestand die variable Vergütung zu 70 % aus Unternehmenszielen (z. B. EBITDA, Umsatz) und zu 30 % aus individuellen Zielen. Die Ziele sollten gemäß BV bis zum 1 März eines Jahres vorgegeben und mit dem Mitarbeiter zuvor besprochen werden.
  • Für das Jahr 2019 unterblieb die Vorgabe individueller Ziele vollständig. Die Unternehmensziele wurden dem Kläger erstmals am 15.10.2019 konkret, mit Gewichtung und Zielkorridor, mitgeteilt – also nach Ablauf von etwa drei Vierteln der Zielperiode.
  • Die Beklagte legte pauschal einen Zielerreichungsgrad von 142 % (individuelle Ziele) und 37 % (Unternehmensziele) zugrunde und gewährte dem Kläger eine Bonuszahlung i.H.v. 15.586,55 EUR brutto. Der Kläger kündigte zum 30.11.2019 und verlangte Schadensersatz in Höhe von 16.035,94 EUR brutto, basierend auf einer geschätzten Zielerreichung von insgesamt 112,6 %. Er machte geltend, dass die Beklagte verpflichtet gewesen sei, die Zielvorgaben rechtzeitig zu machen. Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit der Begründung, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und hätte auch den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen, weshalb ein Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Zielvorgabe ausgeschlossen sei. Dem Kläger seien insbesondere die maßgeblichen Unternehmenskennzahlen aufgrund der Präsentation am 26.03.2019 bekannt gewesen und am 16.04.2019 hinsichtlich Umsatzziele und EBITDA-Ziel mitgeteilt worden.
  • Das BAG gab der Schadensersatzklage in der beantragten Höhe statt.
Entscheidungsgründe
  • Rechtspflicht zur Zielvorgabe: Das BAG stellt klar, dass es sich bei der variablen Vergütung um einen einheitlichen Anspruch handelt, der eine wirksame, rechtzeitige Zielvorgabe durch den Arbeitgeber voraussetzt. Diese Pflicht hatte die Beklagte schuldhaft verletzt, indem sie keine individuellen Ziele vorgab und die Unternehmensziele erst verspätet mitteilte.
  • Unmöglichkeit einer späteren Zielvorgabe: Eine nachträgliche Leistungsbestimmung (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB) ist ausgeschlossen, wenn eine Zielvorgabe ihre Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann. Eine solche Unmöglichkeit (§ 275 BGB) liegt jedenfalls dann vor, wenn – wie hier – ein erheblicher Teil der Zielperiode (75 %) bereits abgelaufen ist.
  • Verschulden und Mitverschulden: Die Beklagte konnte die gesetzlich vermutete Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) nicht entkräften. Der Kläger traf kein Mitverschulden (§ 254 BGB); er war nicht verpflichtet, auf die Zielvorgabe hinzuweisen oder deren Festlegung einzufordern. Die Initiativlast liegt allein beim Arbeitgeber.
  • Schadensschätzung nach § 287 ZPO (Zivilprozessordnung): Das BAG bestätigte die Schätzung des LAG, das auf Grundlage des durchschnittlichen Zielerreichungsgrads von 142 % (individuelle Ziele) und einer hypothetischen 100 %igen Zielerreichung bei Unternehmenszielen zu einer Gesamtzielerreichung von 112,6 % gelangt war. Daraus ergab sich, unter Beachtung der Bonuszielvergütung von 28.500 EUR brutto, ein Anspruch auf 31.622,49 EUR brutto, auf den die Beklagte abzüglich der bereits gezahlten 15.586,55 EUR noch eine Geldsumme von 16.035,94 EUR brutto zu leisten hat.
Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des BAG fügt sich in seine jüngere Rechtsprechung zum Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers bei verspäteter Vereinbarung/Festlegung von Zielen in zielvereinbarungsbezogenen Bonussystemen ein (s. dazu zuletzt auch unsere Urteilsbesprechungen in der Monthly Dose 10/2024).
Arbeitgeber haben bei variablen Vergütungssystemen mit Zielvorgaben sicherzustellen, dass die Ziele rechtzeitig, konkret und dokumentiert festgelegt und dem Mitarbeiter mitgeteilt werden – insbesondere, wenn die Zielvorgabe einseitig durch den Arbeitgeber erfolgt. Unterbleibt dies schuldhaft, drohen Schadensersatzforderungen. Dabei ist es unerheblich, ob der Arbeitnehmer die unterlassenen Ziele im Nachhinein erreicht hätte oder nicht – entscheidend ist allein die Verletzung der Zielvorgabepflicht. Die Initiativpflicht liegt allein beim Arbeitgeber; pauschale Ersatzzielwerte (z. B. Durchschnittswerte) sind ohne vertragliche Grundlage unzulässig. Eine nachträgliche gerichtliche Zielbestimmung ist nicht möglich, wenn die Anreizfunktion entfallen ist.
Es empfiehlt sich eine klare und verbindliche vertragliche Regelung zur Zuständigkeit, zum zeitlichen Ablauf und zur Form der Zielvorgabe sowie deren korrekte Umsetzung.  

Auslegung tariflicher Regelungen - Kein Anspruch auf anteilige Jahressonderzahlung bei Ausscheiden vor November

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern hat in seinem Urteil vom 28.01.2025 (5 SLa 115/24) entschieden, dass ein Arbeitnehmer, der vor dem Stichtag im November aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, grundsätzlich keinen Anspruch auf eine (anteilige) tarifliche Jahressonderzahlung habe.

Sachverhalt
  • Der Kläger war bei der Beklagten, die ein Eisenbahninstandhaltungswerk betrieb, nach abgeschlossener Ausbildung als Facharbeiter beschäftigt.
  • Kraft beiderseitiger Tarifbindung findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ein Firmen-Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung.
  • Gemäß § 15 MTV erhalten Beschäftigte “mit dem Novemberentgelt” eine Jahressonderzahlung. Für das Eintrittsjahr ist eine anteilige Zahlung geregelt, nicht jedoch für das Austrittsjahr.
  • Der Kläger kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31.08.2023 und forderte die (anteilige) Sonderzahlung für 2023 in Höhe von 1.625,36 EUR brutto.
  • Die Beklagte verweigerte die Zahlung unter Hinweis auf das Fehlen einer Regelung für das Austrittsjahr. Gerade aus der tarifvertraglichen Regelung für das Eintrittsjahr ergebe sich im Umkehrschluss, dass im Austrittsjahr keine anteilige Zahlung zu leisten sei.
  • Das Arbeitsgericht wies die Klage ab; der Kläger legte Berufung ein. Das LAG Mecklenburg-Vorpommern wies die Berufung zurück.
Entscheidungsgründe
  • Die Formulierung in § 15 MTV „mit dem Novemberentgelt“ stelle nicht lediglich eine Fälligkeitsregelung, sondern eine Stichtagsvoraussetzung dar. Die Sonderzahlung setze somit ein bestehendes Arbeitsverhältnis im November voraus.
  • Eine anteilige Zahlung im Austrittsjahr ist im Tarifvertrag nicht vorgesehen – im Gegensatz zum Eintrittsjahr. Die Differenzierung ist sachlich gerechtfertigt und diene der Honorierung von Betriebstreue.
  • Darüber hinaus liege kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG (Grundgesetz)) vor, da die Jahressonderzahlung bezwecke, die Betriebstreue zu honorieren und die Arbeitnehmer zu erhöhter Einsatzbereitschaft zu motivieren. Dieser Zweck sei bei bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmern nicht mehr zu erfüllen.
  • Das Gericht betont, dass es keine tarifliche Grundlage dafür gibt, ausgetretenen Arbeitnehmern eine volle oder anteilige Sonderzahlung zu gewähren. Dies würde zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Besserstellung ausgeschiedener gegenüber neuen oder ganzjährig Beschäftigten führen.
  • Diese Auslegung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG (zuletzt etwa Urt. v. 08.09.2021, 10 AZR 322/19) zur Zulässigkeit tariflicher Stichtagsklauseln, wenn ein legitimer Zweck – hier die Betriebstreue – verfolgt wird.
  • Praktische Erwägungen (z. B. Abrechnungsaufwand) würden ebenfalls gegen eine Zahlung nach Austritt sprechen; eine großzügigere Regelung hätte ausdrücklich vereinbart werden müssen.
Folgen für die Praxis

Die Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der sorgfältigen Formulierung und Auslegung tariflicher Anspruchsvoraussetzungen – insbesondere bei Sonderzahlungen. Wird eine Zahlung „mit dem Novemberentgelt“ gewährt, kann dies mehr sein als eine reine Fälligkeitsregelung; es kann eine Stichtagsbindung enthalten. Tariflich nicht geregelte Fallgestaltungen, etwa zum Austrittsjahr, führen dann regelmäßig dazu, dass ausgeschiedene Beschäftigte keinen Anspruch auf (anteilige) Leistungen haben.

Did you find this useful?

Thanks for your feedback