Verspätete Zielvorgaben für variable Vergütung als Haftungsrisiko für Arbeitgeber
Das BAG entschied in seinem Urteil vom 19.02.2025 (10 AZR 57/24), dass Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch gegen den Arbeitgeber haben können, wenn dieser schuldhaft gegen seine arbeitsvertragliche Verpflichtung verstößt, dem Arbeitnehmer rechtzeitig für eine Zielperiode Ziele vorzugeben, an deren Erreichen die Zahlung einer variablen Vergütung geknüpft ist und eine nachträgliche Zielvorgabe ihre Motivations- und Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann.
Sachverhalt
- Der Kläger war seit Juli 2016 als Head of Advertising bei der Beklagten beschäftigt. Gemäß seinem Arbeitsvertrag hatte er Anspruch auf ein Jahreszielgehalt in Höhe von 95.000 EUR brutto, das sich aus einem Fixgehalt in Höhe von 66.500 EUR brutto und einem variablen Bonusanteil in Höhe von 28.500 EUR brutto zusammensetzt. Die variablen Ziele sollten jährlich durch den Vorgesetzten im Rahmen einer einseitigen Zielvorgabe festgelegt werden.
- Am 12.03.2019 trat eine Betriebsvereinbarung (BV) in Kraft, die rückwirkend zum 01.01.2019 das Vergütungsmodell neu regelte. Für Führungskräfte wie den Kläger bestand die variable Vergütung zu 70 % aus Unternehmenszielen (z. B. EBITDA, Umsatz) und zu 30 % aus individuellen Zielen. Die Ziele sollten gemäß BV bis zum 1 März eines Jahres vorgegeben und mit dem Mitarbeiter zuvor besprochen werden.
- Für das Jahr 2019 unterblieb die Vorgabe individueller Ziele vollständig. Die Unternehmensziele wurden dem Kläger erstmals am 15.10.2019 konkret, mit Gewichtung und Zielkorridor, mitgeteilt – also nach Ablauf von etwa drei Vierteln der Zielperiode.
- Die Beklagte legte pauschal einen Zielerreichungsgrad von 142 % (individuelle Ziele) und 37 % (Unternehmensziele) zugrunde und gewährte dem Kläger eine Bonuszahlung i.H.v. 15.586,55 EUR brutto. Der Kläger kündigte zum 30.11.2019 und verlangte Schadensersatz in Höhe von 16.035,94 EUR brutto, basierend auf einer geschätzten Zielerreichung von insgesamt 112,6 %. Er machte geltend, dass die Beklagte verpflichtet gewesen sei, die Zielvorgaben rechtzeitig zu machen. Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit der Begründung, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und hätte auch den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen, weshalb ein Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Zielvorgabe ausgeschlossen sei. Dem Kläger seien insbesondere die maßgeblichen Unternehmenskennzahlen aufgrund der Präsentation am 26.03.2019 bekannt gewesen und am 16.04.2019 hinsichtlich Umsatzziele und EBITDA-Ziel mitgeteilt worden.
- Das BAG gab der Schadensersatzklage in der beantragten Höhe statt.
Entscheidungsgründe
- Rechtspflicht zur Zielvorgabe: Das BAG stellt klar, dass es sich bei der variablen Vergütung um einen einheitlichen Anspruch handelt, der eine wirksame, rechtzeitige Zielvorgabe durch den Arbeitgeber voraussetzt. Diese Pflicht hatte die Beklagte schuldhaft verletzt, indem sie keine individuellen Ziele vorgab und die Unternehmensziele erst verspätet mitteilte.
- Unmöglichkeit einer späteren Zielvorgabe: Eine nachträgliche Leistungsbestimmung (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB) ist ausgeschlossen, wenn eine Zielvorgabe ihre Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann. Eine solche Unmöglichkeit (§ 275 BGB) liegt jedenfalls dann vor, wenn – wie hier – ein erheblicher Teil der Zielperiode (75 %) bereits abgelaufen ist.
- Verschulden und Mitverschulden: Die Beklagte konnte die gesetzlich vermutete Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) nicht entkräften. Der Kläger traf kein Mitverschulden (§ 254 BGB); er war nicht verpflichtet, auf die Zielvorgabe hinzuweisen oder deren Festlegung einzufordern. Die Initiativlast liegt allein beim Arbeitgeber.
- Schadensschätzung nach § 287 ZPO (Zivilprozessordnung): Das BAG bestätigte die Schätzung des LAG, das auf Grundlage des durchschnittlichen Zielerreichungsgrads von 142 % (individuelle Ziele) und einer hypothetischen 100 %igen Zielerreichung bei Unternehmenszielen zu einer Gesamtzielerreichung von 112,6 % gelangt war. Daraus ergab sich, unter Beachtung der Bonuszielvergütung von 28.500 EUR brutto, ein Anspruch auf 31.622,49 EUR brutto, auf den die Beklagte abzüglich der bereits gezahlten 15.586,55 EUR noch eine Geldsumme von 16.035,94 EUR brutto zu leisten hat.
Folgen für die Praxis
Die Entscheidung des BAG fügt sich in seine jüngere Rechtsprechung zum Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers bei verspäteter Vereinbarung/Festlegung von Zielen in zielvereinbarungsbezogenen Bonussystemen ein (s. dazu zuletzt auch unsere Urteilsbesprechungen in der Monthly Dose 10/2024).
Arbeitgeber haben bei variablen Vergütungssystemen mit Zielvorgaben sicherzustellen, dass die Ziele rechtzeitig, konkret und dokumentiert festgelegt und dem Mitarbeiter mitgeteilt werden – insbesondere, wenn die Zielvorgabe einseitig durch den Arbeitgeber erfolgt. Unterbleibt dies schuldhaft, drohen Schadensersatzforderungen. Dabei ist es unerheblich, ob der Arbeitnehmer die unterlassenen Ziele im Nachhinein erreicht hätte oder nicht – entscheidend ist allein die Verletzung der Zielvorgabepflicht. Die Initiativpflicht liegt allein beim Arbeitgeber; pauschale Ersatzzielwerte (z. B. Durchschnittswerte) sind ohne vertragliche Grundlage unzulässig. Eine nachträgliche gerichtliche Zielbestimmung ist nicht möglich, wenn die Anreizfunktion entfallen ist.
Es empfiehlt sich eine klare und verbindliche vertragliche Regelung zur Zuständigkeit, zum zeitlichen Ablauf und zur Form der Zielvorgabe sowie deren korrekte Umsetzung.