Mitbestimmungsfreiheit einer arbeitnehmerlos gegründeten Konzernholding-SE

Die Entscheidungen des EuGH und des BAG schaffen Rechtssicherheit in der bedarfsgerechten Gestaltung der Mitbestimmung in der SE bei Verwendung als Holdinggesellschaft

Der EuGH hatte in seinem Urteil vom 16.05.2024 (C-706/22) entschieden, dass bei einer von den beteiligten Gesellschaften gegründeten Holding-SE, die nach der Gründung zunächst keine Arbeitnehmer beschäftigt, das Verfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden muss, zu dem die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigtenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist. Das BAG ist dieser Rechtsauffassung des EuGH in seinem Beschluss vom 26.11.2024 (1 ABR 37/20) gefolgt. Die Entscheidungen schaffen der Praxis eine rechtssichere Verwendung dieser Gestaltungsmöglichkeit zur bedarfsgerechten Gestaltung der Mitbestimmung in solchen Konzernsachverhalten.

Hintergrund

Die Gründung einer SE erfolgt in der Praxis typischerweise im Wege (1) der Verschmelzung unter Beteiligung von mindestens zwei Aktiengesellschaften aus verschiedenen Jurisdiktionen der EU, (2) des Formwechsels einer Aktiengesellschaft mit mindestens einer EU-ausländischen Tochtergesellschaft oder (3) der Verschmelzung einer Gesellschaft auf eine Vorrats-SE. Zwingender Bestandteil der Gründung einer SE ist das Verfahren zur Festlegung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsorgan der SE. Die Mitbestimmung soll primär zwischen den Leitungen der an der Gründung beteiligten Gesellschaften und dem dafür einzurichtenden besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer (BVG) in einer dazu abzuschließenden Vereinbarung festgelegt werden.

In der Praxis war bisher bereits in Deutschland die (Vorrats-)Gründung einer SE ohne Durchführung eines Abeitnehmerbeteiligungsverfahrens zulässig, soweit weder die SE noch die Gründungsgesellschaften über Mitarbeiter verfügen. Jedoch sollte nach der bisher herrschenden Meinung das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachgeholgt werden, sobald die SE aktiviert, also operativ zum Leben erweckt wird. Dabei wurde unter anderem differenziert, ob die SE selbst mit Mitarbeitern ausgestattet wird, oder ob sie lediglich Beteiligungen an Tochtergesellschaften erhält, die ihrerseits Mitarbeiter beschäftigten. Im Hinblick auf die letzgenannte Konstellation haben der EuGH und das BAG nun erkannt, dass keine Pflicht besteht, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachzuholen.

Sachverhalt

Im Jahr 2013 wurde eine arbeitnehmerlose SE durch zwei arbeitnehmerlose Gründungsgesellschaften nach britischem Recht gegründet, ohne Verhandlungen über die Arbeitnehmermitbestimmung durchzuführen. Einen Tag nach der Eintragung wurde die SE zur Alleingesellschafterin einer deutschen Holding GmbH mit eigenen Mitarbeitern und mehreren (EU-weiten) Tochtergesellschaften mit insgesamt ca. 2.200 Mitarbeitern, die selbst dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) unterfiel. Die Holding GmbH wurde in der Folgezeit in eine KG umgewandelt, wodurch die Arbeitnehmermitbestimmung nach dem DrittelbG entfiel. Die SE wurde im Rahmen der Umwandlung zur alleinigen Kommanditistin und alleinigen Gesellschafterin der Komplementärin in Form einer weiteren SE. Beide SEs blieben arbeitnehmerlos. Der Sitz der SE wurde 2017 von England nach Deutschland verlegt. Der Konzernbetriebsrat der KG beantragte kurz danach vor dem ArbG Hamburg, dass die SE das Beteiligungsverfahren nachholen müsse. Das ArbG Hamburg und das LAG Hamburg wiesen den Antrag des Konzernbetriebsrats ab. Das anschließend im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren vom Konzernbetriebsrat angerufene BAG legte dem EuGH unter anderem die Frage zur Beantwortung vor, ob in einem solchen Fall der späteren Aktivierung der SE als herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften das Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nachzuholen ist.

Die Entscheidung des EuGH – und der Schlusspunkt vom BAG

Der EuGH hatte in seinem Urteil vom 16.05.2024 entschieden, dass das Beteiligungsverfahren im Fall einer (zulässiger Weise) mitbestimmungsfrei gegründeten SE nicht nachzuholen ist, wenn die SE herrschende Gesellschaft von Tochterunternehmen mit Arbeitnehmern in verschiedenen EU-Staaten wird. Eine Nachholung könne nur im Fall eines Missbrauchs geboten sein, wobei entsprechende Regelung dazu dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber vorbehalten seien.

Der EuGH stützte seine Entscheidung auf eine Untersuchung des Wortlautes, der Systematik, des Zwecks und der Historie der einschlägigen europarechtlichen Vorschriften der SE-VO (VO EG 2157/2001) und der SE-Richtlinie (RL 2001/86) und führte insbesondere an, dass das Verhandlungsverfahren zwischen den Parteien im Allgemeinen vor der Gründung der SE stattfinden müsse und die Regelungen dazu daher nicht auf eine bereits gegründete SE anwendbar seien. Auch die von der SE-RL vorgesehenen Ausnahmen davon seien für den vorliegenden Fall nicht einschlägig. Den Erwägungsgründen für die SE-VO und der SE-RL lasse sich entnehmen, dass diese zum einen die Gewährleistung der von den Arbeitnehmern der an der Gründung beteiligten Gesellschaften erworbenen Beteiligungsrechte sowie zum anderen die Durchführung von Verhandlungen zwischen den Parteien über die Fortführung dieser bestehenden Beteiligungen im Rahmen der SE sicherstellen sollen und insoweit klar an die Gründung einer SE anknüpfen. Eine Nachholungspflicht im Hinblick auf eine bereits gegründete SE lasse sich damit gerade nicht begründen. Zudem habe sich der europäische Gesetzgeber im Interesse der Vorhersehbarkeit für Anteilseigner und Arbeitnehmer sowie der Stabilität der bestehenden SE bewusst für die Durchführung des Beteiligungsverfahrens vor – und nicht nach – der Gründung der SE entschieden und sei das mögliche Erfordernis einer Wiederaufnahme der Verhandlungen bei strukturellen Änderungen der SE zwar erwogen worden aber bewusst nicht Bestandteil der gesetzlichen Regelungen geworden. Insofern bestehe keine Regelungslücke, sondern handele es sich um eine echte Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die sich aus dem Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip ergäbe.

Das BAG hat sich in seinem Beschluss vom 26.11.2024 (1 ABR 37/20) sowie in zwei vom Sachverhalt ähnlichen Parallelverfahren zu SE & Co. KGs (Beschlüsse vom 26.11.2024, 1 ABR 6/23 und 1 ABR 3/23) dem nun angeschlossen und hat entschieden, dass ein Verfahren zur Verhandlung über die Beteiligung von Arbeitnehmern in einer SE nicht nachträglich durchgeführt werden muss, wenn dieses bei der Gründung der SE unterbleiben durfte, da im Zeitpunkt der Gründung keine Arbeitnehmer beschäftigt waren, es sich also um eine sogenannte Vorratsgründung gehandelt hat.

Gemäß §§ 4 und 18 SEBG sei die Nachholung solcher Verhandlungen nicht vorgesehen, da diese Vorschriften nur für die geplante Gründung einer SE sowie für strukturelle Änderungen gemäß § 18 Abs. 3 SEBG bzw. die in § 18 Abs. 1 und 2 SEBG genannten Tatbestände bei einer SE gelten, bei der bereits ein besonderes Verhandlungsgremium im Rahmen der Gründung gebildet wurde.

Auch eine analoge Anwendung dieser Vorschriften ist nach dem BAG ausgeschlossen, da keine planwidrige Regelungslücke bestehe. Nach der Rechtsprechung des EuGH beruhe das Fehlen von Regelungen zur nachträglichen Aufnahme von Verhandlungen auf einer bewussten Entscheidung des Unionsgesetzgebers. Laut dem BAG bestehen ebenso wenig Anhaltspunkte dafür, dass der nationale Gesetzgeber eine Pflicht zur Nachholung von Verhandlungen im Fall der Gründung einer arbeitnehmerlosen SE hätte regeln wollen.

§ 43 SEBG, der ein Missbrauchsverbot enthält, begründe laut dem BAG ebenfalls keine Pflicht zur Nachholung, da die Norm lediglich ein bestimmtes Verhalten untersage, ohne positive Handlungspflichten zu normieren. Offengelassen hat das BAG insoweit, wann überhaupt von einem Missbrauch ausgegangen werden muss. Eine den Wortlaut des § 43 SEBG übersteigende Auslegung - gegebenenfalls im Weg richterlicher Rechtsfortbildung - wurde vom BAG abgelehnt, da sie weder unionsrechtlich geboten noch vom nationalen Gesetzgeber vorgesehen sei.

Fazit und Praxistipp

Rechtssicherheit besteht aufgrund der entschiedenen Sachverhalte nun jedenfalls für die Verwendung einer Vorrats-SE als Kommanditistin oder Komplementärin einer SE & Co. KG, die Konzernspitze eines Konzerns mit mehr als 2000 Mitarbeitern ist bzw. selbst mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigt.

Für die Praxis maßgeblich ist die Folgefrage, welche Reichweite die Entscheidung des EuGH auf vergleichbare Gestaltungsoptionen hat. Diese Frage stellt sich insbesondere für den praxisrelevanten Fall der späteren wirtschaftlichen Aktivierung einer vorher arbeitnehmerlos gegründeten SE durch Übertragung eines aktiven Unternehmens mit Mitarbeitern auf die SE bzw. die Verschmelzung einer mitbestimmten Gesellschaft auf die SE. Die bisher wohl herrschende Meinung, dass in solchen Fällen eine Nachholpflicht besteht, dürfte aber wohl schwierig mit den Entscheidungen des EuGH und BAG zu vereinbaren sein. Solange jedoch zu derartigen Fallgestaltungen noch keine höchstrichterliche Entscheidungen vorliegen, dürfte sich aber weiterhin empfehlen, aus Vorsichtsgründen das Beteiligungsverfahren in analoger Anwendung der für die Gründung relevanten Vorschriften des SEBG nachzuholen oder den Weg über eine Holdingstruktur zu gehen, auch wenn unter Berücksichtigung der aktuellen Entscheidungsgründe viel dafür spricht, dass das BAG vermutlich auch in diesen Fällen eine Pflicht zur Nachholung ablehnen wird. Im gerade abgeschlossenen Koalitionsvertrag ist eine Anpassung des Rechts der Unternehmensmitbestimmung jedenfalls nicht vorgesehen.

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